Marielle Franco
27.07.1979: | Geboren in Rio de Janeiro |
1998: | Geburt ihrer Tochter |
ab 2000: | Engagement für Menschenrechte |
2002: | Stipendium für die Päpstliche Katholische Universität von Rio de Janeiro, Studium der Sozialwissenschaften |
2006: | Eintritt in die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) Beitritt zum Wahlkampfteam des PSOL-Abgeordneten Marcelo Freixo |
2014: | Abschluss des Master-Studiums im Fach „Öffentliche Verwaltung“ an der Universidade Federal Fluminense in Niterói |
2016: | Wahl zur Stadträtin in Rio de Janeiro |
Februar 2018: | Leitung der neu gestarteten Menschenrechtskommission in Rio de Janeiro |
14.03.2018: | Ermordet in Rio de Janeiro |
2019: | Posthume Auszeichnung mit dem „Diploma Bertha Lutz“ |
2021: | Kommission zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen wird in Rio de Janeiro nach Marielle Franco benannt |
2023: | Würdigung durch die brasilianische Post mit Marielle-Franco-Briefmarke |
Armut und Diskriminierung prägten die Kindheit und Jugend von Marielle Franco, aber auch Zusammenhalt und Kampfgeist. Die Ungerechtigkeiten, die die Brasilianerin als schwarze, bisexuelle und alleinerziehende Frau persönlich und in ihrem Umfeld erlebte, ließen sie groß und laut werden. Viele Jahre ihres Lebens setzte sich Marielle Franco – auch als Politikerin – für die Menschenrechte von bestimmten Gruppen und gegen Polizeigewalt ein. Bis sie vor sechs Jahren ermordet wurde.
Aufgewachsen in der Favela Maré
Geboren wurde Marielle Francisco da Silva, wie sie mit ganzem Namen hieß, am 27. Juli 1979 in der Favela Maré in Rio de Janeiro als älteste von zwei Töchtern. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, Rassismus, soziale Ungleichheit und Polizeigewalt prägten ihren Alltag und den der vielen anderen Bewohner*innen von Maré.
Ihre Eltern legten großen Wert darauf, dass Marielle und ihre Schwester Anielle viel lernten, die Schulgebühren aber konnten sich die Eltern allein nicht leisten. Deshalb arbeitete Marielle Franco bereits mit elf Jahren als Straßenhändlerin und verdiente so ihr Schulgeld. Sie erlebte in der Favela Maré neben Armut aber auch großen Zusammenhalt unter den Bewohner*innen, zum Beispiel als sie als Jugendliche Teil der Tanz- und Musikgruppe „Furação 2000“ war.
Nach ihrem Schulabschluss nahm sie an dem ersten kostenlosen Vorbereitungskurs der Favela für die Aufnahmeprüfungen der Universität teil. Mit 19 Jahren wurde sie schwanger und brachte 1998 ihre Tochter Luyara zur Welt. Die Beziehung mit dem Kindsvater war nicht von langer Dauer, Marielle Franco zog ihre Tochter mit Unterstützung ihrer Mutter alleinerziehend auf.
Studium dank Vollzeit-Stipendium
Im Jahr 2000 starb eine ihrer Freundinnen bei einem Schusswechsel zwischen der Polizei und einer Drogenbande in der Maré durch eine sogenannte „Bala perdida“, eine verirrte Kugel. Fortan setzte sich Marielle Franco für Menschenrechte und gegen Polizeigewalt ein.
Nachdem sie die Aufnahmeprüfung bestanden und ein Voll-Stipendium erhalten hatte, studierte die junge Mutter ab 2002 an der Päpstlichen Katholischen Universität von Rio de Janeiro Sozialwissenschaften. Zehn Jahre später begann sie ein Master-Studium im Fach „Öffentliche Verwaltung“ an der Universidade Federal Fluminense in Niterói und schloss dieses 2014 ab.
Politische Karriere begann 2006
Ihr politisches Engagement begann bereits zu Studienzeiten: 2006 trat Marielle Franco in die Partei für Sozialismus und Freiheit (Partido Socialismo e Liberdade, PSOL) ein und wurde auf Anhieb Teil des Wahlkampfteams des PSOL-Abgeordneten Marcelo Freixo. Nach dessen Wahl wurde sie zu seiner politischen Beraterin.
2016 trat Marielle Franco selbst als Kandidatin für das Stadtparlament von Rio de Janeiro an. Mit 46.502 Stimmen wurde sie zur Stadträtin gewählt; landesweit hatte sie die fünfmeisten Stimmen erhalten. Im 51-köpfigen Stadtparlament war sie anschließend eine von sieben Frauen und von diesen die einzige mit dunkler Hautfarbe.
„Eine schwarze Frau zu sein, bedeutet, in jedem Moment zu kämpfen“
Als Politikerin setzte sich Marielle Franco vor allem für die Rechte von Frauen, Favela-Bewohner*innen, Schwarzen und der LGBTQ-Gemeinde ein. Deren Lebenswelt kannte sie selbst nur zu gut: Als schwarze, bisexuelle Frau, die in einer Favela aufgewachsen war, wurde sie selbst oft diskriminiert. „Eine schwarze Frau zu sein, bedeutet, in jedem Moment zu kämpfen und zu überleben“, sagte sie 2017 in einem Interview.
Als Stadträtin brachte sie in den anderthalb Jahren ihrer Amtszeit 16 Vorschläge in das Parlament ein. Darin ging es unter anderem um nächtliche Kinderbetreuung für Schichtarbeiterinnen und Wohnförderung für arme Familien. Sie reichte immer wieder Beschwerden ein, wenn Jugendliche in der Favela von der Polizei erschossen worden waren, und sie machte sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch stark.
Mordanschlag mit vier Kopfschüssen
Im Februar 2018 übernahm sie die Leitung der neuen Menschenrechtskommission in Rio de Janeiro, die den kurz zuvor beschlossenen Einsatz des Militärs in den Favelas überwachen sollte. Nur einen Monat wurde Marielle Franco erschossen.
Am Abend des 14. März 2018 war Marielle Franco mit ihrer Pressesprecherin Fernanda Chaves und ihrem Fahrer Anderson Gomes auf dem Rückweg von einer Podiumsdiskussion, als der Wagen von zwei anderen Fahrzeugen bedrängt wurde. 13 Schüsse fielen, vier trafen Marielle Franco in den Kopf. Sie und ihr Fahrer starben, ihre Pressesprecherin überlebte das Attentat.
„Wie viele müssen noch sterben?“
Noch am Tag vor ihrem Tod hatte Marielle Franco bei der Plattform Twitter die Polizei beschuldigt, für mehrere Morde an Jugendlichen in den Favelas verantwortlich zu sein. „Wie viele müssen noch sterben, bevor dieser Krieg vorbei ist?“, hatte sie geschrieben.
Bei der Beisetzung am Tag nach dem Mordanschlag säumten Tausende Menschen die Straßen. Auch weit über die Grenzen von Rio de Janeiro protestierten die Menschen, die ermordete Stadträtin wurde zum Symbol des Widerstands und für Gerechtigkeit.
Zwei Tatverdächtige in U-Haft
Erst mehr als ein Jahr nach der Tat wurden zwei Verdächtige festgenommen, der mutmaßliche Schütze und sein Fahrer. Einer von ihnen war ein ehemaliger Polizist, der andere war bis zu seiner Verhaftung aktiv im Polizeidienst. Abgeschlossen sind die Ermittlungen allerdings bis heute nicht. Ob und von wem der Mord an Marielle Franco in Auftrag gegeben wurde, ist nicht geklärt.
„Wir sind uns sicher, dass es eine politische Einflussnahme gab“, sagte die ehemalige Stabschefin von Marielle Franco, Renata Souza, gegenüber Amnesty International. Der Mord ereignete sich während der Präsidentschaft von Jair Messias Bolsonaro, der sich zu der Tat in keiner Weise äußerte. Die Regierung forcierte die Aufklärung auch nicht, sondern erschwerte sie vielmehr durch die mehrmalige Auswechslung der leitenden Ermittelnden. Eine Beteiligung der Militärpolizei haben die Behören bislang weder bestätigt noch dementiert.
Ihre Schwester wird zur Ministerin für Gleichstellung
Unter dem 2022 gewählten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva kam neuer Schwung in die Ermittlungen, der Justizminister Flávio Dino nannte die Aufklärung des Mordanschlags „eine Frage der Ehre“. Als Würdigung Marielles Francos durch den neuen Präsidenten kann auch betrachtet werden, dass er ihre Schwester Anielle im Oktober 2022 zur Ministerin für die Gleichstellung ethnischer Gruppen ernannte.
Marielle Francos Engagement wirkt indessen über ihren Tod hinaus. „Marielle repräsentierte die Kämpfe verschiedener Personen, verschiedener Gruppen. Sie gab all den anonymen toten Schwarzen in den Favelas eine Stimme. Als sie umgebracht wurde, sollte diese Stimme getötet werden. Aber jetzt sind wir Millionen Marielles“, beschreibt die Aktivistin Dríade Aguiar die große Reaktion im Land auf den Tod der Stadträtin.
Proteste unter dem Slogan „Marielle vive“
„Marielle verkörperte Menschen, die sonst von der Politik vergessen wurden“, sagte ihre Parteikollegin Talíria Petrone. All diese Menschen gingen nach dem Mord zu Tausenden auf die Straße und protestierten unter dem Slogan „Marielle vive“ („Marielle lebt“). Bei den nächsten Kommunalwahlen in Rio de Janeiro traten zudem doppelt so viele schwarze Frauen als Kandidatinnen an wie bei der Wahl zuvor. „Der Mord hat vielen Menschen gezeigt, wie wichtig es ist, mehr von uns in diesen Räumen zu haben“, so Petrone.
Der 14. März gilt seit dem Tod Marielle Francos in Rio de Janeiro als offizieller Tag des Genozids an schwarzen Frauen. Der Karneval im Jahr nach dem Mord stand ebenfalls im Zeichen Marielle Francos: Die „Estação primeira de mangueira“, eine der größten Sambaschulen Rios widmete ihren Karnevalsauftritt der ermordeten Stadträtin. „Brasilien, es ist der Moment gekommen, die Marias, Mahins, Marielles, Males zu hören“, heißt es im Refrain in der eigens für den Auftritt komponierten Musik.
Posthume Würdigungen
Als weitere Würdigungen wurde Marielle Franco 2019 posthum mit dem „Diploma Bertha Lutz“ ausgezeichnet, das nach der brasilianischen Feministin Bertha Lutz benannt ist und Frauen ehrt, die einen Beitrag zur Verteidigung der Frauenrechte geleistet haben. 2021 benannte die Stadt Rio de Janeiro die Kommission zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen nach Marielle Franco. Die brasilianische Post brachte 2023 eine Briefmarke zum Andenken an Marielle Franco heraus.
Auch in anderen Ländern wird der Politikerin gedacht: In Berlin-Kreuzberg erinnert zum Beispiel ein Wandgemälde an Marielle Franco und ihr Engagement.
Bildquelle: https://blogs.canterbury.ac.uk/library/lgbt-history-month-2019-faces-marielle-franco/